Aaseher Winter 2005/2006: Geschichten vom Fußball

Geschichten vom Fußball
Dornen und Brennnesseln

Kolja Steinrötter spielt in der 1. Fußballmannschaft des SV Blau-Weiß Aasee und ist Fan des spanischen Erstligisten Deportivo La Coruna. Außerdem verbringt er viel Zeit auf der Sentruper Höhe beim Kicken. Wenn er ausnahmsweise mal nicht dem runden Leder hinterher jagt, schreibt er Geschichten. Und die drehen sich, wen wundert es, um Fußball.

Dornen und Brennnesseln. Ich stehe bis zu den Knien im Gestrüpp und bin beginne mit meinem Röntgenblick den Fußball zu suchen den natürlich jemand anders über den Zaun geschossen hat. In solchen Situationen befällt mich immer eine Geduld die mir allgemein nicht wirklich eigen ist. Anstatt das Gehölz zu zertrampeln und den Ball sozusagen offensiv zu suchen, glaube ich ihn nur durch intensives Sehen zu finden. Das funktioniert nie. Es hat in meiner zwanzigjährigen Fußballkarriere auf öffentlichen Sportplätzen noch nie funktioniert. Den Ball findet immer jemand anders, einer meiner Mitspieler dem es nach Minuten des Hoffens zu bunt wird und beschließt seine eigenen Beine aufs Spiel zu setzen. Ich sollte noch erwähnen, dass ich eine Allergie habe gegen Gestrüpp. Und Gras. Das mag meine Bewegungslust in Dornen bremsen, aber so richtig schön ist es auch beim Rumstehen nicht. Nachher jucken meine Beine und ich spiele mit Zuckungen.

Auch heute stellt sich beim Röntgenschauen kein Erfolg ein. Es ist in etwa so sinnvoll, wie meine vergeblichen Versuche mittels Gedankenkraft ein auf dem Tisch liegendes Geldstück zu bewegen. Ich probiere es immer wieder mit größter Konzentration. Das da vorn! Das könnte der Ball sein! Etwas Weißes blitzt im Gehölz. Ich beuge mich vor, noch ein bisschen, oh, dieser große Dorn dort, vor dem sollte ich mich in Acht nehmen und mit dem verunsichernden Gedanken verliere ich mein Gleichgewicht und falle ungebremst (außer von noch mehr Brennnesseln) ins Gebüsch. Etwas hartes Rundes drückt mir unangenehm in den Rücken, ich vermute es ist der Fußball. Anscheinend hatte er sich durch ein paar Blätter in meiner unmittelbaren Umgebung getarnt. Ich greife den Ball unter meinem Rücken hervor und werfe ihn über den Zaun wo er mit leisem Jubel empfangen wird. Ich liege noch ein wenig auf dem Boden und denke über meine übersinnlichen Fähigkeiten nach.

Als ich mich irgendwann wieder aus dem Dickicht kämpfe, wird mir der Platz im Tor angewiesen, beziehungsweise alle anderen rennen vollkommen kopflos auf dem Rest des Platzes herum. Und derjenige der das Pech hat letzter Mann zu sein, ist entweder doof und rennt einfach auch nach vorne, oder er bleibt hinten weil er sieht, das Tor ist leer. Das ist allerdings nur eine andere Form von doof, denn das Tor wieder zu verlassen ist kaum möglich. Beginnt man "Torwartwechsel" zu rufen, erst leise, dann immer verzweifelter, wird man meist bis zum Ende des Spiels ignoriert. Nach 10 Minuten halbherzigen Rufens werfe ich die Taktik über Bord und renne auch nach vorn und sehe wie ein bemitleidenswerter Mitspieler auf einmal registriert, das nun er der letzte Mann ist. Er öffnet noch den Mund um zu protestieren, aber erkennt schnell die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens und bleibt mir hängenden Schultern im Regen stehen.

Ich dagegen, stehe erwartungsvoll im Mittelfeld, 30 Meter vor dem Tor und tatsächlich - jemand spielt mich an. Das heißt, der Rechtsaußen schießt den Ball blind, feste und in Sackhöhe zufällig in meine Richtung, so das meine Ballverarbeitung Ramelow`sche Züge annimmt bevor alles so ist wie ich mir das vorstelle. Was mache ich jetzt? Warum bewegt sich niemand? Und wie entrinne ich dem kleinen marokkanischen Spieler der mir seit ungefähr 25 Sekunden in die Achillesferse tritt. Wohlgemerkt an dem Fuß der nicht den Ball führt. Ich glaube er heißt Mohamed. Einige rufen ihn aber auch Mustafa. Oder Sharif. Er weiß wer gemeint ist. Schwieriger wird es bei Klaus, der eigentlich Jürgen heißt. Oder war es Hermann? Bei Peter bin ich mir sicher, dass er nicht Peter heißt, denn letztens in der Halle, in der ich mit ihm bestimmt seit 4 Jahren spielt und ich mich mal wieder verabschiedete, "Tschüß Peter, mach's gut", da antwortete er, "Tschüß, ach und übrigens, ich heiß gar nicht Peter". Womit das geklärt gewesen wäre. Trotzdem hatte er sich in 4 Jahren "Super gemacht Peter" irgendwie immer angesprochen gefühlt.

Ich jedenfalls kapituliere vor MustafaSharifMohamed und spiele den Ball wieder nach außen zurück, wo derselbe Spieler (Jürgen? Hans? Karl? Ich glaube es war Rudi!) der mich zuvor mit seinen Passkünsten überraschte, mich jetzt mit seiner Ballannahme unterhält. Der Ball springt von seinem Schienbein circa 4 Meter weit weg, ein gegnerischer Spieler sprintet dazwischen, ist eine Sekunde eher am Ball. Dennoch ist mein Mitspieler noch rechtzeitig gekommen um statt des Balles den Fuß des Gegners zu treffen, der fliegt, schreit und fällt. Die folgenden Szenen sind wie alles zuvor beliebig austauschbar. Während der eine vor Schmerzen flucht, schreit der andere sofort "Das war kein Foul! Ich habe versucht zum Ball zu gehen!".

Es folgen lustige Tumulte. Ich stehe im Mittelfeld und denke an meine Freundin. Eigentlich denke ich daran, dass sie mich vor Wochen verlassen hat. Und es wird nicht besser. Und ich denke daran das sie mir zum Abschied noch ein Buch geschenkt hat, und zwar "100 Jahre Einsamkeit" von Garcia Marquez. Vielen Dank!

Alternatives Ende:
Es fängt ein wenig an zu regnen und ich beschließe, nicht mehr weiterzuspielen. Meine Beine jucken bereits und der Regen und überhaupt der dunkle Himmel verderben mir die Laune. Ich rappele mich auf und schlage mich durch das Gebüsch in die Richtung in der mein Fahrrad steht. Die Straße glänzt schon im Regen, Pfützen bilden sich und ich stehe mit Stollen und kurzen Hosen auf dem Bürgersteig. Mein Fahrrad ist weg. Es war ein regenbogenfarbenes Mädchenrad und ich hatte es abgeschlossen. Es ist völlig unvorstellbar, dass ein Mensch auf die Idee käme dieses Rad zu stehlen, geschweige denn das Schloss dafür zu brechen. Aber jemand hat es getan.

Ich mache mich wohl oder übel zu Fuß auf den Weg und mir ist kalt. Und nass. Nicht schön. Die Wolken hängen tief und der Regen wird stärker. Es ist dieser dichte, besonders nasse, etwas warme Regen, dem man gerne zuhört wenn man zu Hause im warmen am Fenster steht und eine Tasse Tee trinkt beim Lesen. Die Straßen sind wie leergefegt, keine fahrenden Autos, keine Menschen. Nur ein paar Krähen schreien in den Bäumen. Ich mag diese Laute lieber als das Singen der meisten anderen Vögel. Ich mag das Krächzen von Dohlen, Krähen und Raben. Irgendwie ist es mir ehrlicher. Ich gehe jetzt schon 10 Minuten und langsam finde ich es etwas seltsam das keine Autos unterwegs sind. Eigentlich ist diese Gegend schon recht belebt, auch das schlechte Wetter sollte sie nicht so aussterben lassen. Ein Altglascontainer, ein paar parkende Autos, Laub auf den Gehwegen. Und Krähen.

Ich gehe weiter, bis zur ersten Kreuzung. Die Ampel ist grün und gedankenverloren wandere ich weiter durch den Regen, zu mir nach Hause wo ich mir erst einmal etwas leckeres zu Essen machen werde. Und dann gehe ich duschen, koche Kaffee und mache es mir vor dem Fernseher gemütlich. Das werde ich tun!

Wenn ich erschöpft bin vom Fußballspielen, dann macht im Bett essen und fernsehen am meisten Spaß. Ich lächle, denn wenn ich an kleine zukünftige Freuden denke, überfallen mich immer sekundenartige Glücksanfälle. Sehr schön. Geflatter in den Bäumen hinter mir. Ein Schwarm kleinerer schwarzer Vögel ist aufgeflogen und fliegt in Richtung des kleinen Sees der irgendwo ein paar hundert Meter rechts von mir sein muss. Ich halte inne. Es ist ganz ungewöhnlich ruhig, nur das Rascheln der Bäume und der Regen und ein paar Vögel umgeben mich. Keine Menschenseele unterwegs. Ich blicke mich genauer um, aber ich kann nirgends ein fahrendes Auto, oder einen Fahrradfahrer erspähen, nicht mal einen Jogger und die gibt es doch sonst hier zu hunderten.

Langsam beschleicht mich ein unangenehmes Gefühl, ich werde etwas nervös und etwas kriecht mir kalt den Rücken runter. Ich beginne zu rennen, nach Hause, nur nach Hause. Der Regen peitscht mir ins Gesicht, immer wieder wandern meine Blicke suchend nach links und rechts, alles ist still. Niemand ist hier.
Kolja Steinrötter